2011

Förderpreis der DGfR des Jahres 2011

Preisträgerin: Frau Yvonne Weppner

Diplomarbeit: "Die Liberalisierung des europäischen Schienenpersonenverkehrs und der Deregulierungsprozess des Bahnnetzes unter Berücksichtigung der neuen EU-Fahrgastrechteverordnung"

Laudatio zur Verleihung des 9. Förderpreises der DGfR in Essen am 23.09.2011

Von Ralph Müller-Bidinger, Rechtsanwalt, Frankfurt am Main

Meine sehr geehrten Damen und Herren, 

in diesem Jahr verleiht die DGfR zum zweiten Mal den Reiserechtsförderpreis für Diplomarbeiten. Wir haben bei den Bewerbungen im Vergleich zum Jahr 2009 eine Steigerungsrate von 400 %, nämlich 4 eingereichte Diplomarbeiten. Aber nicht nur dieser quantitative Anstieg ist erfreulich, sondern vor allem auch die Qualität und Themenvielfalt der eingereichten Arbeiten. Von Dynamic Packaging über luftverkehrsrechtliche Untersuchungen (zu sicherheitsrelevanten Regelungen im europäischen Luftverkehr und zu den wirtschaftlichen Auswirkungen der Fluggastrechteverordnung Nr. 261/2004/EG auf die Luftfahrtunternehmen) bis hin zur europäischen Rechtsentwicklung im Eisenbahnverkehr reichte das Spektrum. 

Sämtliche Arbeiten sind hervorragend und völlig zu Recht mit der Note sehr gut von der Hochschule Kempten bewertet worden. Das hat es uns als Jury, d. h. Herrn Dr. Dietrich Kressel, Leiter der TUI-Rechtsabteilung, Herrn Patrick Matern, Syndikusanwalt der Deutschen Reisebüro GmbH und mir nicht gerade leicht gemacht. 

Wir haben uns schließlich für eine Arbeit entschieden, die aus unserer Sicht unter den vielen hervorragenden Arbeiten doch noch ein Stück weiter herausragt. Wir freuen uns sehr, heute Frau Yvonne Weppner, den Förderpreis der DGfR verleihen zu dürfen, für ihre Diplomarbeit "Die Liberalisierung des europäischen Schienenpersonenverkehrs und der Deregulierungsprozess des Bahnnetzes unter Berücksichtigung der neuen EU-Fahrgastrechteverordnung". 

Der Titel ist zwar wenig griffig, umreißt dafür aber ziemlich präzise, um was es geht. Angestrebtes Ziel der EU-Eisenbahnverkehrspolitik ist die Schaffung eines einheitlichen Bahnnetzes und dessen Öffnung für den Wettbewerb, womit nicht zuletzt auch eine Steigerung des Marktanteils der Bahn gegenüber den anderen Verkehrsträgern beabsichtigt ist. Die Verfasserin stellt die bisherige Rechtsentwicklung dar und geht dabei natürlich auch auf die EU-Fahrgastrechteverordnung ein, die ein wichtiger Baustein dieser Entwicklung ist. 

Die kluge Gliederung der Arbeit erleichtert dem Leser den Zugang zu der komplexen Materie. So stellt uns die Autorin nach einer kurzen Einleitung zunächst die Akteure des Marktgeschehens sowie deren jeweiligen, z. T. widerstreitenden Interessen und die damit einhergehenden Probleme vor. Auch auf die technischen Schwierigkeiten einer Vereinheitlichung des Netzsystems aufgrund zahlreicher unterschiedlicher nationaler Netz- und Netzsicherheitstechnologien macht die Verfasserin schon im Grundlagenkapitel aufmerksam und vertieft dies später (in Kapitel 3 über die "Transeuropäischen Netze"). Hätten Sie etwa gedacht, dass in den Ländern Europas sieben verschiedene Stromsysteme für die Bahn und mehr als ein Dutzend unterschiedlicher Zugsicherungssysteme nebeneinander bestehen (siehe Anhang XVIII, S. 108)? Allein das lässt schon erahnen, welche Schwierigkeiten technischer, finanzieller und auch verkehrspolitischer Art zu bewältigen sind, um überhaupt eine Kompatibilität oder, wie es im Eisenbahnverkehrsrecht heißt: "Interoperabilität", für den grenzüberschreitenden Eisenbahnverkehr zu erreichen. Im Bereich der Europäischen Eisenbahnpolitik bestehen die aufgeworfenen Probleme im Wesentlichen in den Unterschieden technischer, betrieblicher, politischer und rechtlicher Voraussetzungen und Strukturen der Mitgliedstaaten, die es zum Zwecke der Europäischen Integration zu überwinden gilt. Die Verfasserin merkt zutreffend an, dass zur Schaffung eines grenzüberschreitenden, transeuropäischen Netzes durch Interoperabilität von allen Beteiligten Kompromisse eingegangen werden, d. h. eigene Interessen zurückgestellt, sowie nationale Regelungen und Gesetze zugunsten der Gemeinschaft angepasst werden müssten (S. 25). 

Den geschilderten Grundlagen schließt sich ein Abriss der Reformpolitik der EU an, der im Wesentlichen durch die drei so genannten "Bahnpakete" geprägt ist, d. h. Bündeln von Richtlinien und Verordnungen zu unterschiedlichen Aspekten des Eisenbahnverkehrsmarktes. Den Bemühungen um den Aufbau eines transeuropäischen Eisenbahnnetzes und den damit verbundenen Schwierigkeiten widmet die Verfasserin ein eigenes Kapitel. 

Ein besonderes "Highlight" stellt der vierte Abschnitt der Diplomarbeit dar, der mit "Handlungsempfehlungen für den europaweiten Schienenverkehr" überschrieben ist. Hier zieht die Verfasserin ihre Schlussfolgerungen aus den zuvor beschriebenen Entwicklungen und den dabei sichtbar gewordenen Problemen und stellt denkbare Lösungsansätze dar. So fordert sie von der EU-Kommission weiterhin eine klare Linie bei ihrer Politik der Schaffung eines wettbewerbsfähigen Eisenbahnnetzes unter Vermeidung eines "Gewirrs von Ausnahmeregelungen". Einen sich andeutenden Strategiewechsel der Kommission, der sich nachteilig auf die Finanzierung von Bahnprojekten (zu Gunsten anderer Verkehrsträger) auswirken könnte, sieht die Verfasserin skeptisch. Als eine alternative Finanzierungsform werden Puplic Private Partnerships vorgeschlagen. Die Bahnunternehmen der verschiedenen Länder müssten zudem lernen, miteinander zu kooperieren und kundenorientierter zu arbeiten, wobei Verbesserungen und Innovationen langfristig ausgelegt sein sollten. Schließlich seien Verbesserungen bei den Kompetenzen und der Unabhängigkeit der Regulierungsstellen notwendig, um einen diskriminierungsfreien Marktzugang gewährleisten zu können. Bei all dem verliert sich die Verfasserin nicht in abstrakten Bemerkungen und Theorien, sondern verdeutlicht ihre Ausführungen immer wieder anhand von Beispielen aus der Praxis. Wissen Sie, warum die Kooperation der schweizerischen Bundesbahnen mit der italienischen Staatsbahn u. a. gescheitert ist? Die Mitarbeiter waren jeweils nur bei einer der beiden Bahnen beschäftigt, d. h. bei verschiedenen Arbeitgebern. Das führte zu Kommunikationsschwierigkeiten und gegenseitigen Schuldzuweisungen beim Auftreten von Problemen wie z. B. Zugverspätungen. Der Eurostar hatte aus diesem Fehler gelernt und seine Mitarbeiter bei dem Gemeinschaftsunternehmen angestellt. 

Das 5. Kapitel widmet Frau Weppner der EU-Fahrgastrechteverordnung. Sie belässt es hierbei nicht bloß bei einer Darstellung der Entstehungsgeschichte und der Regelungsbereiche der Verordnung, sondern zeigt darüber hinaus auch auf, wie unterschiedlich verschiedene nationale Gesetzgeber die von der Verordnung eingeräumten Handlungsspielräume genutzt und umgesetzt haben. Das in Deutschland eingeführte Modell der unabhängigen Schlichtungsstelle begrüßt Frau Weppner. Gedanken an die Einführung einer europäischen Schlichtungsstelle lehnt sie dagegen ab. 

Was macht diese Diplomarbeit so besonders, dass wir gerade ihr bzw. ihrer Autorin den Reiserechtsförderpreis zuerkannt haben? 

Es ist zum einen das herausfordernde, etwas exotische und dadurch auch schwierige Thema, das nicht im Fokus der täglichen Arbeit eines Reiserechtlers liegt, wenn er nicht gerade in einem Verkehrsministerium oder einem Bahnunternehmen arbeitet. Dementsprechend schwieriger als bei "gängigen" reiserechtlichen Themen dürfte sich auch die Literaturbeschaffung und -sichtung gestaltet haben. Frau Weppner gelingt das Kunststück, auf lediglich 80 Textseiten die komplizierte EU-rechtliche Entwicklung des Bahnverkehrsrechts mit all ihren Facetten und Problemen informativ nachzuzeichnen und den Leser so auf den aktuellen Stand zu bringen. Ein umfangreicher Anhang ergänzt die Ausführungen für diejenigen, die es noch genauer wissen müssen. So wird der Lesefluss nicht gebremst. Die Verfasserin beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Darstellung des Status quo, sondern gibt darüber hinaus einen umfassenden Ausblick über das, was auf dem noch immer weiten Weg der Liberalisierung und Deregulierung noch zu tun oder besser zu unterlassen ist. Dank ihrer erfrischend klaren und pointierten Sprache und den immer wieder eingestreuten Beispielen aus der Praxis schafft es die Autorin, die komplexen technischen Sachverhalte sowie die unterschiedlichen verkehrspolitischen und wirtschaftlichen Interessenlagen, für jedermann anschaulich und verständlich darzustellen. Sie fördert hierdurch auch das Verständnis der von der EU geschaffenen Normen im Bahnbereich, die in dieser Arbeit in einem umfassenden Gesamtkontext dargestellt werden. Gerade dieser umfassende Blick auf das Gesamtsystem "Eisenbahn" schärft auch den Blick für die reiserechtlichen Probleme, etwa bei der Auslegung der Verordnung über die Fahrgastrechte der Bahnreisenden. 

Trotz der komplexen Materie ist das Werk durchweg interessant und bisweilen sogar spannend und unterhaltsam geschrieben. Es macht wirklich Spaß, diese Diplomarbeit zu lesen! Sie ist nach Auffassung der Jury ein für das Reiserecht bedeutender Beitrag. Deshalb zeichnen wir Frau Weppner heute mit dem DGfR-Förderpreis aus. 

Frau Weppner hat nach dem Fachabitur Tourismus-Management an der Hochschule Kempten studiert und Auslandserfahrung in Australien und während eines Auslandssemesters in Edingburgh gesammelt. In der Tourismuswirtschaft hat sie verschiedene Praktika absolviert, u. a. in der Deutschen Zentrale für Tourismus e. V. in Frankfurt am Main, wo sie den Bereich Vertriebsmanagement Studienreisen mit betreute. 

Wir gratulieren Frau Yvonne Weppner ganz herzlich zu Ihrer rundum gelungenen Diplomarbeit und zu ihrem Erfolg in dem Wettbewerb um den diesjährigen DGfR-Förderpreis. Privat wünschen wir Frau Weppner für Ihren weiteren Weg alles Gute. Beruflich wünschen wir ihr eine glänzende Laufbahn, hoffentlich in der Tourismuswirtschaft! Vielen Dank!